Ein neuer Tag, ein neuer Zeitungsartikel zu Wohnen in Österreich. Heute stammt er aus der Zeitung Die Presse und lässt mit der folgenden Überschrift aufhorchen: “Freier Wohnungsmarkt würde Mieten senken“. Der Kern des Artikels: Eine neue Studie belege, dass es eine optimale Lösung für die derzeitigen Wohnungsprobleme in Österreich gäbe. Der Schlüssel dazu? Eine Deregulierung des Wohnungsmarkts. Sie würde dazu führen, dass Investitionen steigen und damit auf die lange Dauer auch die Mieten sinken, da sich Angebot und Nachfrage einpendeln. Anders formuliert: Investitionen sähen – soziale Gerechtigkeit ernten. Gehts der Wirtschaft gut, gehts uns allen gut.
Bei genauerem Nachdenken überrascht der Artikel doppelt. Er überrascht zuerst einmal empirisch. Neu bereitgestellte private Mietwohnungen in Österreich (nach 1953) obliegen de jure als auch de facto keinen Mietzinsbeschränkungen. Private Investoren können also schon lange neue Wohnungen zur Verfügung stellen, ohne dass diese mietrechtlich beschränkt wären. Der Mietzins ist hier “frei vereinbar”. Dem Gedankengang der Studie folgend könnte man erwarten, dass Investoren in diesem Segment über die letzten 60 Jahre ausreichend Wohnraum zur Verfügung gestellt haben. Sodass sich Angebot und Nachfrage eingependelt haben. Aber wieso haben wir dann überhaupt noch Diskussionen über zu hohe Mieten bzw. über Mieten, die sich eine steigende Zahl von “Nachfragern” nicht leisten können?
Die schrittweise stattgefundene Deregulierung des Mietrechts für Altbaubestände (vor 1953 gebaut) seit den 1980ern scheint die These der Studie ebenfalls zu widerlegen. Die Einführung von Richtwertmietzins und von Vertragsbefristungen – zwei zentrale Zugeständnisse an VermieterInnen – haben in der Tat zu einem Ansturm an Investitionen in den österreichischen und vor allem den Wiener Wohnungsmarkt geführt. Diese Ertragslücken haben Wohnungssanierung zu einem lukrativen Geschäft gemacht und viele Anleger aus anderen Wirtschaftsbereichen in den Wohnungsmarkt gelockt. Doch ohne steigende Mieten keine hohen Renditen. Die von der Studie prophezeiten Mietsenkungen sind ausgeblieben. Ganz Im Gegenteil zeigt sich: Seit den Deregulierungsmaßnahmen sind Mieten drastisch gestiegen. In Wien sind sie in den letzten 10 Jahren in keinem Segment so stark gestiegen wie im privaten, deregulierten Altbaubestand. Hier stiegen die Mieten um 67 % in den 2000ern – weit mehr als der allgemeine Anstieg in der Stadt um knapp über 35 %. Weit mehr auch als die durchschnittlichen Einkommen. Hätte die Stadt Wien nicht seit 2008 die Wohnbeihilfe auch für private Mietwohnungen ermöglicht, wären die Wohnungsprobleme in der Stadt noch umfassender. Was in Österreich bzw. Wien passiert ist im Rahmen der Deregulierung, folgt nahtlos internationalen Referenzbeispielen. Deregulierung, vor allem in vormals stark regulierten Segmenten, ermöglicht lukrative Möglichkeiten zur Kapitalakkumulation durch die Abschöpfung von Deregulierungsmieten. Ein langfristiges “Einpendeln” von Angebot und Nachfrage? Empirisch bisher nicht nachgewiesen.
Während also die zitierte Studie in Der Presse aus empirischer Sicht aufhorchen lässt, tut sie das auch theoretisch. Der Annahme eines langfristigen Gleichgewichtszustands auf Wohnungsmärkten liegt die Annahme eines perfekt funktionierenden Markts zugrunde. Hier treffen sich Anbieter und Nachfrager und beide stimmen sich aufeinander ab – zumindest langfristig – und es herrscht perfekte Allokation. Daher, so auch die zitierte Studie, führen niedrigere Baustandards auch nicht zu schlechteren Wohnungen. Denn die Nachfrager würden diese nicht akzeptieren. Grotesk ignoriert wird hier jegliche wissenschaftliche Erkenntnis über die Imperfektion von Wohnungsmärkten. Immobilität des Gutes, fehlende Austauschbarkeit, fehlende Transparenz, die Wichtigkeit von Präferenzen, Diskriminierung bei der Wohnungssuche: all diese Charakteristka von Wohnungsmärkten führen dazu, dass der theoretische Gleichgewichtszustand nicht mehr als eine Illusion ist. Das Wohnungsangebot richtet sich nicht nach dem Bedarf bzw. den Bedürfnissen, sondern nach den Möglichkeiten für Erträge bzw. Rendite. Am sozialen Auge ist der Wohnungsmarkt blind. Auch aus theoretischer Perspektive überrascht daher die Studie umfassend.
Nicht überraschend ist die zitierte Studie allerdings, wenn man sieht wer dahinter steht. Die Agenda Austria, ein in der Selbstbeschreibung “unabhängiger, aber nicht neutraler” Think Tank, will “Lösungen im Sinne der Marktwirtschaft aufzeigen”. Ex-Presse Wirtschaftsredakteur Schellhorn hat sich mit Gleichgesinnten zusammengetan um mit “wissenschaftlich fundierten Studien” zu einem “Kulturwandel” beizutragen (lies Lobbyismus für Kapitalinteressen). Der erste Beitrag zum Wohnungsmarkt aus dieser Denkfabrik lässt Böses erahnen. Versteckt hinter dem Label der “wissenschaftlichen Studie” handelt es sich hier um einen perfiden Angriff auf jahrzehntelang erkämpfte Rechte für soziale Gerechtigkeit am österreichischen Wohnungsmarkt. Das sollte hier klar gesagt werden.