Wohnen in Wien – Einblicke ins Verborgene: Teil 1 Delogierungen

Dieser Artikel wurde am 2.9.2016 upgedated: Die Zahlen für 2004-2008 wurden aufgrund aktualisierter Datenlage korrigiert.

Justin Kadi / Mara Verlic

Problemen rund ums Wohnen wird in Wien in den letzten Monaten zunehmend öffentliche Aufmerksamkeit geschenkt. Berichte über steigende Mieten, Leistbarkeitsprobleme oder Konflikte mit Vermieter_innen finden sich fast täglich in den Zeitungen.

Traditionell galt Wien jahrzehntelang als „anders“ im Bezug auf Fragen des Wohnens: Wohnungsprobleme, wie sie in anderen Städten vorherrschten, waren in Wien nur in wesentlich geringerem Ausmaß anzutreffen – nicht zuletzt das Resultat einer umfassenden öffentlichen Regulierung des Wohnungsmarkts, die sich seit den 1920ern im Rahmen des „Roten Wiens“ etabliert hatte. Seit den 1980ern wurde das sozialpolitisch orientierte Wiener Wohnungspolitikregime allerdings zunehmend von Liberalisierungstendenzen erfasst. Schrittweise – und im Einklang mit wohnungspoltischen Trends in anderen Städten – verlässt sich auch Wien zunehmend auf „den Markt“ für die Versorgung mit Wohnraum.

Die steigende öffentliche Diskussion signalisiert, dass sich in dem Kontext veränderter Regulierungsformen auch Probleme rund ums Wohnen in der Stadt verschärfen. Aber während sich die mediale Aufmerksamkeit häuft und sich soziale Bewegungen rund um das Thema formieren (beispielsweise das Bündnis Wilder Wohnen), wird von offizieller Seite der Stadtverwaltung kalmiert und die Existenz von Wohnungsproblemen als Randphänomen bagatellisiert.

Die Serie „Wohnen in Wien – Einblick ins Verborgene“ nimmt diesen Umstand zum Anlass in den nächsten Wochen auf unterschiedliche Dimensionen der Wohnungsproblematik in Wien genauer hinzusehen. In unserem ersten Teil widmen wir uns heute dem Thema Delogierungen.

Teil 1: Delogierungen in Wien

In der Wohnung war die behinderte Frau (Rollstuhl), ein Kleinkind, ein Baby und der Mann. Die 3 anderen Kinder waren in der Schule. Die Frau hat kein Wort Deutsch gesprochen, also gar nicht verstanden, was los war. Nachdem klar war, dass sie freiwillig die Wohnung nicht verlassen werden, wurde erst die Fürsorge geholt (die haben dann auch die Schulkinder von der Schule abgeholt) und dann die Polizei. (…) Jedenfalls ist es einfach traurig zu sehen, wie das Essen noch am Herd steht, die Wäsche in der Waschmaschine liegt, so als würde die Familie jeden Moment heim kommen. Die Eltern wohnen jetzt in einem Obdachlosenheim, die Kinder sind in der Obhut der Fürsorge und das Baby ist bei Pflegeeltern.

– so die anonymen Erzählung einer Mitarbeiter_in einer privaten Hausverwaltungsfirma über ihren ersten Delogierungstermin in einem Onlineforum. Foreneinträge rund um das Thema Delogierung und Räumungsklagen in Wien finden sich im Internet leicht, etwa auf den Seiten www.gericht.at und www.wohnnet.at, geschrieben meist von Betroffenen selbst, die das Internet als (letzte) Möglichkeit der Hilfesuche und Informationsgewinnung nutzen.

Unterschiedliche Legitimationen

Delogierungen können aus rechtlicher Perspektive unterschiedliche Legitimationen haben: Eine Vernachlässigung des Mietobjekts oder unleidliches Verhalten gegenüber der Hausgemeinschaft sind rechtlich mögliche Gründe. Sie geben aber eher selten den Anlass zu einer Räumungsklage. Im Großteil der Fälle, in etwa in 95 % laut Volkshilfe Wien, sind Mietzinsrückstände der Grund für die Einleitung eines Verfahrens. Ab zwei Monaten Mietzinsrückstand können Vermieter_innen laut geltendem Mietrecht eine Räumungsklage beim Bezirksgericht einbringen.

Unterschiedliche Stufen

Von Räumungsklagen betroffen waren im Jahr 2012 in Wien 20.525 Personen (Zahlen laut Justizministerium/ FAWOS). Diese Zahl fluktuiert leicht über die Zeit, bleibt aber mit der Ausnahme einer sprunghaften, kurzzeitigen Zunahme auf über 22,000 im Jahr 2008 seit 2001 im Wesentlichen konstant. In etwa die Hälfte der Fälle betrifft private Mietwohnungen, die andere Hälfte Gemeindebauwohnungen.

Bei Betrachtung von Räumungsklagen nach Bezirken zeigt sich, dass tendenziell der Anteil von Haushalten, die von Räumungsklagen betroffen sind in sozioökonomisch schwächer gestellten – ärmeren – Bezirken höher ist als in sozioökonomisch höher gestellten – reicheren – Bezirken. Prozentuell waren im Jahr 2012 1,2 % der Wiener Bevölkerung von einer Räumungsklage betroffen. Reiche Bezirke wie Hietzing, Josefstadt oder Währing rangieren mit weniger als 1 % betroffener Bevölkerung am unteren Ende. Simmering, Meidling und Margareten liegen mit mehr als 1,5 % am oberen Ende. Am höchsten ist die Betroffenheit überraschenderweise in der Inneren Stadt. Hier haben im Jahr 2012 1,6 % der Bevölkerung – oder 275 Personen – eine Räumungsklage erhalten. Eine mögliche Erklärung könnte darin liegen, dass der Druck auf Immobilienpreise – und damit auf arme Haushalte – in der Inneren Stadt besonders hoch ist.

Eine Räumungsklage ist allerdings nicht unmittelbar mit dem Verlust der Wohnung gleichzusetzen. Sie bedeutet erst einmal, dass es zu einer Anhörung bei Gericht kommt, und entschieden wird, ob die Klage gerechtfertigt ist. Kommt es in dieser Zeit zu einer Einigung der Parteien, beispielsweise durch eine Mietzinsrückzahlung, wird das Verfahren in der Regel eingestellt. Im Falle einer Nichteinigung können die Eigentümer_innen einen Räumungsexekutionsantrag stellen, wenn sich die Mietpartei weigert auszuziehen. Räumungsexekutionsanträge liegen in Wien konstant bei etwa 7.000 Haushalten pro Jahr. Konkret wurden im Jahr 2012 7.270 solcher Anträge eingebracht.

Oftmals kommt es allerdings auch im Falle von gestellten Räumungsexekutionsanträgen noch zu Einigungen oder zu einem Auszug der Mieter_innen vor Vollzug der Räumung. Erst wenn dies nicht passiert, kommt es zur tatsächlichen Räumungsexekution. Im Jahr 2012 wurden in Wien 2.565 Haushalte tatsächlich aus ihrer Wohnung delogiert. Etwa 1.000 Fälle davon betrafen Gemeindebauwohnungen.

Auffallend ist, dass die Gesamtzahl der exekutierten Räumungen seit 2006 im Sinken ist. Währen die Zahl im Jahr 2006 noch über 4.000 lag, ist sie seither mehr oder weniger konstant gesunken (siehe Grafik). Die Ursache für dieses Sinken – vor allem vor dem Hintergrund der gleichbleibend hohen Zahl der eingebrachten Räumungsexekutionsanträge ist unklar. Eine Möglichkeit ist, dass es in einer größeren Zahl von Fällen zwischen Mieter_innen und Vermieter_innen zu einer Einigung kommt vor der Durchführung der Exekution, beispielsweise durch eine effektivere Einmischung der städtischen Wohnungssicherungsstelle FAWOS, die zwischen Mieter_innen und Vermieter_innen vermittelt. Eine andere Möglichkeit ist ein steigender Druck auf Mieter_innen von Seiten der Vermieter_innen in den letzten Jahren, der dazu führt, dass Mieter_innen schon vor Durchführung der Räumung ihre Wohnung verlassen. Hier zeigt sich auch eine Schwäche der Statistik: Eine nicht durchgeführte Räumung heißt nicht automatisch, dass  die Mieter_innen in ihren Wohnungen verbleiben können. Bei Auszug wird die Räumung obsolet – und fließt in die Statistik als nicht durchgeführt ein.

Während die Gesamtzahl der Delogierungen rückläufig, ist, hat sie in den Gemeindebauten in den letzten Jahren rapide zugenommen. Wurden im Jahr 2007 noch 676 Mieter_innen delogiert, waren es 2008 schon 992. Im Jahr 2011 waren es 994.

Zusammenfassend kann folgendes gesagt werden: Auch wenn die Zahl der tatsächlich Delogierten von 2.565 im Jahr 2012 weit unter jener von 20.525 liegt, die mit einer Räumungsklage konfrontiert sind muss die Tatsache, dass mehr als 2.500 Haushalte in Wien jedes Jahr aus ihren Wohnungen delogiert werden als eindeutiges Zeichen eines evidenten Problems gesehen werden. Besonderes Augenmerk sollte dem Gemeindebau – als Sektor mit steigenden Delogierungszahlen – gewidmet werden.

Unterschiedliche Akteur_innen

Eine Delogierung ist ein komplexer Prozess, in dem eine Vielzahl von Akteur_innen beteiligt sind: Mieter_innen, Vermieter_innen, Hausverwaltungen, Gerichte, Hilfestellen, um nur einige zu nennen.

Eine besonders skurril anmutende Blüte der steigenden Zahl an Räumungsklagen in Wien ist die Herausbildung eines eigenen Dienstleistungssegments, das sich dem Thema Delogierungen in Form von spezialisierten Umzugsunternehmen widmet. Eine Internetrecherche führt zunächst zu einem Delogierungsanbieter mit dem paradoxen Namen „Luxusumzug“ und darauf zur Firma ATH Trans, die auf ihrer Homepage verspricht: „Zwangsräumung / Delogierung? Alles kein Problem, wir helfen Ihnen dabei!“ Auch das unschöne Wort „Bestandsfreimachung“ scheint inzwischen aus Deutschland nach Wien gekommen zu sein, wenn die Immobilienfirma und Bauträger „U.M.BAU“ auf ihrer Homepage mit der Abwicklung von Ausmietungen und eben jener Bestandfreimachungen für Hauseigentümer_innen wirbt.

Unterstützung bietet die Stadt Wien im Fall von Räumungsklagen und drohenden Delogierungen durch mehrere Stellen an: Betroffene in Genossenschafts- und Privatwohnungen können sich an FAWOS, eine Stelle der Volkshilfe wenden; für Menschen in Gemeindebauten gibt es Regionalstellen des Amtes für Jugend und Familie und Sozialzentren als mögliche Hilfestellungen. An FAWOS wenden sich im Jahr durchschnittlich 2.500 Personen, die Erfolgsquote liegt bei etwa 70%. Und die restlichen 30%?

Unterschiedliche Effekte

Für die übrigen 30% bedeutet die Delogierung den Verlust der eigenen Wohnung und somit einer der wichtigsten Existenzgrundlagen. Manche kommen bei Verwandten oder Bekannten unter, etwa 40 % in den Wohnungen und Heimen des Fonds Soziales Wien, der Rest landet auf der Straße. Mitzudenken ist dabei, dass die 2.565 Haushalte weit mehr Personen umfassen können, darunter natürlich auch eine große Zahl von Kindern (Daten dazu liegen nur für die Gemeindewohnungen vor, aus denen jährlich etwa 300 Kinder delogiert werden).

Dass die Hilfenetze der Stadt Wien zwar vorhanden, aber nicht ausreichend sind zeigen die 2.565 Wohnungsräumungen im Jahr 2012 erneut – genau 2.565 Delogierungen zu viel! Für Personen, die Hilfe benötigen oder aktiv gegen Delogierungen vorgehen möchte, befindet sich zurzeit eine neue Plattform im Entstehen, deren erstes öffentliches Treffen kurz bevorsteht:

Treffen “Delogierungen stoppen!”:

Sonntag 17.3.2013 19 Uhr, PizzeriA, Mühlfeldgasse 12 / 1020 Wien, Mazzes-Insel.

delo2004-2012
Quelle: Justizministerium, FAWOS, eigene Darstellung.

3 Kommentare

Kommentieren

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Die Kommentare geben nicht die Meinung der AutorInnen dieses Blogs wieder. Wir behalten uns jederzeit vor Kommentare zu entfernen - diesfalls können keine Ansprüche gestellt werden. Weiters behalten wir uns vor Schadenersatzansprüche geltend zu machen und strafrechtlich relevante Tatbestände zur Anzeige zu bringen. Wir bitten darum, uns bei Verdacht auf entsprechnde Vorkommnisse zu kontaktieren.