Die Serie “Wohnen in Wien – Einblick ins Verborgene” wirft einen genaueren Blick auf unterschiedliche Dimensionen der derzeitigen Wohnungsprobleme in Österreichs Haupstadt. Während sich Teil 1 der Serie, den es hier, nachzulesen gibt, mit dem Thema Delogierungen beschäftigt hat, geht es heute in Teil 2 um das Thema Obdachlosigkeit.
Johannes Puchleitner hat sich mit Mag. Markus Reiter, Leiter des ‘neunerhaus’ getroffen. Das neunerhaus ist eine Sozialorgansiation mit Sitz in Margareten, die obdachlosen Menschen unkompliziert Zugang zu Unterkunft verschafft, um damit ein selbstbestimmtes und menschenwürdiges Wohnen zu ermöglichen.
Im Interview spricht Reiter über die Ausbreitung der Obdachlosigkeit in Wien, die heute zunehmend auch Leute aus mittleren Schichten betrifft. Seit 2006, ist die Zahl der Personen, die jährlich von der Wohnungslosenhilfe betreut werden von 5.000 auf 10.000 angestiegen. Reiter erzählt auch über neue Ansätze, wie soziale Organisationen in der Stadt versuchen, mit dieser Situation umzugehen und gibt Einblicke in die Zusammenarbeit mit der Politik.
„Obdachlosigkeit ist in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen.“
Wenn wir über stadtpolitische Prozesse in Wien sprechen, kommt man kaum umhin die ambivalente Rolle der Stadt hervorzuheben. Zum einen herrscht ja noch immer ein starkes Bild von sozialer Inklusion vor; gerade im Vergleich zu anderen Städten, in denen der Wohnungsbestand schon längst privatisiert wurde, steht Wien noch relativ gut da. Zum Anderen gab es auch hier Veränderungen. Meine Frage nun, wie wirken sich diese Veränderungen auf eure Arbeit im neunerhaus aus?
Vorneweg möchte ich sagen, dass ich schon den starken Eindruck habe, dass es eine gemeinsame Anstrengung seitens der Stadtpolitik sowie auch der NGO´s gibt, Wohnen bzw. Wohnpolitik wieder verstärkt als Sozialpolitik zu verstehen. Das macht Wien aus und deswegen ist es auch wieder im Fokus der politischen Debatte. Ausgehend von einer Phase des neoliberalen Mainstreams der letzten 20-30 Jahre, die auch die Wohnpolitik nicht ausgelassen hat, versucht man wieder davon weg zu kommen, Wohnpolitik als Ware zu sehen. Ich glaube das begreift Rot-Grün in Wien jetzt und das ist auch spürbar. Aber es spießt sich noch in mehreren Punkten, u.a. im Mietrecht. Aber das ist nicht der einzige Punkt. Das andere sind die Budgetmittel, denn seit der Wirtschaftskrise sind die Kassen knapp. Wobei man sagen muß, dass seitens der Stadt in den letzten Jahren mehr investiert wurde als an Wohnbaufördergeldern vom Bund reingekommen ist.
Das heißt die Stadt investiert eh…
Der soziale Wohnbau wurde in den letzten 10-20 Jahren stark von den Genossenschaften und den Gemeinnützigen geprägt, nachdem es ja seit 2004 keinen Neubau im Gemeindebau mehr gibt. Und hier wurde lange Zeit nur für die Mittelschicht gebaut. Auch die Gemeinnützigen sehen das jetzt.
Es gibt derzeit ca. 30.000 Vormerkscheine für den Gemeindebau. Das heißt es haben sich 30.000 Menschen für jährlich 8.000 günstige Gemeindewohnungen beworben. Da passt was nicht.
Inwiefern hängt die Einkommensentwicklung mit den derzeitigen Verhältnissen zusammen?
Eine globale Entwicklung ist für mich der Rückgang der Einkommen. Wenn ich in den untersten Einkommensdezilen in den letzten 10 Jahren reale Einkommensverluste habe, männliche Arbeiter sogar bis zu minus 40% ihres Einkommens verlieren, wie sollen sich dann aufgrund der immer geringer werdenden Einkommen die Menschen ihre Wohnungen leisten können?
Was bedeutet denn für dich leistbarer Wohnraum, was heißt das allgmein für euch als neunerhaus? Ihr seit ja auch stark von der Politik bzw. von den poltischen Rahmenbedingungen abhängig, oder?
Nein, wir sind nicht von der Politik abhängig. Wir sind davon abhängig, dass der Wohnungsmarkt funktioniert, im Sinne von, dass es genügend leistbare, kleine, kompakte Wohnungen gibt. Natürlich können wir sagen, all unser Tun ist von der Politik abhängig, aber es ist eher Sozialpolitik als Wohnpolitik. Strukturell gesehen geb ich dir aber recht. Andererseits streben wir auch eine fachliche Veränderung an. Für „Housing First“ stellt sich nämlich nicht nur die Frage, ob es genügend Wohnungen gibt.
Du hast gerade von „Housing First“ geredet. Kannst du uns bitte kurz erkären, was das ist? Welche Strategien wendet ihr da an?
„Housing First“ ist ein international erfolgreicher Ansatz den wir gerade nach Wien bringen. Housing First heißt, Menschen, die wohnungslos werden, sofort wieder in eine eigenständige Wohnung zu vermitteln wo der Mietvertrag auf sie läuft. Wir versuchen so rasch als möglich eine normalisierte Wohn- bzw. Lebensumwelt wiederherzustellen. Wohnen kann nämlich jeder Mensch, das verlernt man eigentlich nicht. Es ist ein Irrglaube die Menschen zuallererst wieder zum wohnen befähigen zu müssen. Vielmehr muß man sie dazu befähigen all ihre vorhandenen Probleme zu bearbeiten. Unsere Betreuer_innen und Sozialarbeiter_innen kommen dann zu Besuch und arbeiten mit den Menschen solange wie notwendig und so kurz wie möglich. Dann ziehen wir uns wieder aus der Betreuung zurück, aber der Mensch bleibt in der eigenen Wohnung.
Kurz zum Mietrechtsgesetz und der Einführung von befristeten Mietverträgen: Gibt es von deiner Seite Forderungen an die Politik, diese Veränderungen wieder rückgängig zu machen, z.B. die Befristungen wieder aufzuheben…
Ich glaube nicht, dass es Sinn macht zu sagen, machen wir alles wieder so, wie es früher war. Ich versteh auch Inverstoren die sagen, wenn ich ein Zinshaus bzw. ein Haus saniere und Geld ausgebe, muß ich das auch wieder rein bekommen. Ich sehe, dass wir eine Ungleichverteilung im Mietrecht haben, ich bin auch für eine Mietzinsregulierung und für eine Abschaffung der befristeten Mietverträge bzw. eine finanzielle Schlechterstellung von befristeten Mietverträgen. Aber eigentlich bin ich dafür, dass wir ein neues Mietrecht schreiben, nur traut sich das keiner zu, aus Angst, er könnte was verlieren. Das gilt es eigentlich zu überwinden.
Du hast einmal gesagt, dass ein Großteil eurer Klient_innen auf den Gemeindebau angewiesen sind. Warum ist das so?
Knapp 90% der Menschen, die aus der Wohnungslosenhilfe in eine eigenständige Wohnung ziehen, sind auf Gemeindewohnungen angewiesen. Und die Fallzahlen steigen, allein 50% in den letzten fünf Jahren in der gesamten Wohnungslosenhilfe. Wir sind jetzt in Wien bei knapp 10.000 Menschen die im Jahr betreut werden und die Zahl wächst weiter. Das Problem ist, dass wir derzeit einfach nicht mehr Wohnungen bekommen. Wir sind in etwa bei 700 Wohnungen die wir jährlich vermitteln können, von denen ein Großteil Gemeindewohnungen sind. Keine Alternative sind die ansonsten günstigen Genossenschaftswohnungen, da sich niemand Eigenmittel von 40.000-50.000€ leisten kann.
Inwiefern ist die Architektur, und damit mein ich im speziellen die Wohnungsgrößen und auch die gestiegenen Standards der Wohnungen ein Thema?
Man darf nicht vergessen, dass sich in den letzten 20 Jahren die durchschnittliche Wohnungsgröße verdoppelt hat, d.h. Wohnungen, die in den 90er Jahren oder im letzten Jahrzehnt gebaut wurden, sind für unsere Leute unerschwinglich, eben auch auf Grund der Wohnungsgrößen und nicht nur aufgrund der Standards. Beim Neubau ist uns eine optimale Flächenutzung durch intelligente, kompakte Grundrisse wichtig, nicht zu klein, aber auch nicht zu groß. Die Gesamtkosten sind für uns natürlich auch wichtig, da kommt dann auch die ökologische Komponente mitrein. Am Ende ist aber eine gute Durchmischung unterschiedlicher Wohnungstypen das, was zählt.
Stichwort Obdachlosigkeit. Ist eine Veränderung von deiner Seite feststellbar? Gibt es neue Zielgruppen? Hast du Gründe für die zuletzt steigenden Zahlen?
Wohnungslosigkeit ist ein Problem, dass mitten in unserer Gesellschaft angekommen ist. Das Bild hat sich gewandelt, als dass wir nicht mehr von dem Obdachlosen, als dem verwahrlosten, betrunkenen, langbärtigen Mann, der in der Mariahilferstraße sitzt, reden. Vielmehr sind das Menschen wie du und ich, Familien, Alleinerziehende usw., die kommen und sagen, wir haben uns die Wohnung nicht mehr leisten können und wir schaffen es nicht, am Markt eine neue Wohnung zu finden. Weil wenn du Mindestsicherungsempfänger bist, bist du beim Makler der Letzte. Auch hat sich das System der Wiener Wohnungslosenhilfe in den letzten 10-15 Jahren so gut entwickelt, dass wir die Menschen rascher erreichen und damit auch jenen begegnen, denen man Obdachlosigkeit eben nicht ansieht.
Weiters stellen wir in der Wohnungslosenhilfe ein massives Ansteigen der Hilfesuchenden fest. Wir waren 2006 bei knapp 5000 Fällen in Wien und sind jetzt bei 10.000. Das ist eine enorme Entwicklung. Wenn dann der Wohnungsmarkt eben nicht die Angebote hat, den Menschen, die kurzfristig eine kleine, billige, einfache Wohnung brauchen, weil sie ausziehen haben müssen, aus welchen Gründen auch immer, dann landen sie bei uns. In einer Krisensituationen, wo sie nicht mehr ein und aus wissen.
Kannst du uns vielleicht Beispiele nennen?
Wir haben Schicksale von Einzelunternehmern die in Konkurs gegangen sind, die teilweise monatelang in ihrem Geschäftslokal in einem Hinterzimmer auf der Couch gewohnt haben. Wir haben immer mehr junge Menschen, die sich bei Freunden oder Bekannten finanziell durchschlagen. Oder auch Frauen, die Zweckbeziehungen mit Männern eingehen, um den Schein zu wahren. Bis es dann halt irgendwann nicht mehr geht.
Inwiefern gibt es noch Kapazitäten bei euch? Oder sind die Grenzen schon erreicht?
Eine Kollegin von mir, von einem anderen großen Träger hat gerade gemeint, dass es notwendig wird, eine gemeinsame Kraftanstrengung mit der Stadt in Richtung mehr leistbaren Wohnraum zu forcieren, weil ansonsten die Gefahr besteht, dass das System kollabiert. Wir kriegen immer mehr Leute rein, aber wir haben einfach nicht mehr Plätze.
Welche Lösungsansätze, Optimierungsvorschläge und Forderungen habt ihr an die Stadt? Wie soll die Zusammenarbeit in Zukunft ausschauen, wie soll man die Stadt in die Verantwortung holen?
Die Stadt ist in der Verantwortung. Und die Stadt ist auch schon mittendrinnen. Unser Positionspapier des Dachverbandes der Wiener Sozialeinrichtungen wurde von Rot-Grün angenommen. Die Stadträtin Wessely sagt, dass sie unsere Anliegen voll und ganz unterstützt. Es werden jetzt erstmal Gespräche anlaufen und wir werden schauen, was wir im Sozialressort tun können, was kann im Bereich Fonds Soziales Wien und der Sozialämter getan werden, um unsere Klient_innen bei den Anmietungskosten zu unterstützen. Wie können wir ein Modell finden, um Kautionen oder Eigenmittel zu finanzieren. Wie können wir sicherstellen, dass es überhaupt eine Zugang zu leistbaren, günstigen Wohnungen gibt.
Ihr seit auch gerade dabei eine Plattform für eine Wohnungsvermittlung einzurichten, oder?
Wir basteln auf Initiative vom neunerhaus gemeinsam mit anderen Trägern, den Stadtabteilungen und den gemeinnützigen Bauträgern an einer Plattform um entsprechenden Wohnraum zu schaffen und Barrieren beim Zugang abzubauen. Speziell für soziale Notfälle, für Menschen die delogiert worden sind, versuchen wir rasch und unbürokratisch, mit der entsprechenden Betreuung unsererseits, Wohnungen zu vermitteln. Das hat gerade erst begonnen und das ist die Zukunft, auf das bauen wir. Wir hoffen auch, dass die Wohnungswirtschaft unsere Anliegen hört, dass man auch versucht, die Privatwirtschaft in die Verantwortung zu holen. Und nicht nur als Sponsor. Die Zukunft ist, dass wir alle zusammenarbeiten müssen, das Kooperationen und Netzwerke entstehen. Das betrifft Ressorts, Verwaltungen, Abteilungen und auch die NGO´s. Wir sitzen in einem Boot.
Markus Reiter ist Gründer und Geschäftsführer des Vereins neunerhaus. Eine Kurzversion des Interviews erschien in einem Schwerpunkt zur Wiener Wohnpolitik in der Printausgabe 64 der Zeitschrift malmoe.